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Die Welt begreifen

Ein Interview mit Sonya Wilson

Wir sprechen über die Gemeinschaft der Gehörlosen beim Klettern, über Kommunikation und die Herausforderungen, denen Sonya in ihrem Leben begegnet ist.

Wann und wie hast du Joshua Tree entdeckt und warum bedeutet dieser Nationalpark dir so viel?

Mit elf Jahren hatte ich gerade alles verloren, was ich jemals gekannt hatte. Meine Mutter war gestorben und ich musste meine Heimat verlassen. Von Nevada nach Südkalifornien zu ziehen, kam einem Kulturschock gleich. Es war mein Glück, dass mich meine Verwandten aufnahmen, aber ich hatte Schwierigkeiten, meinen Platz zu finden. Ich war einsam und vermisste meine gehörlosen Freunde. Meine Familie wusste, dass ich die Natur liebe, deshalb durfte ich an Outdoor-Camps und Wanderungen mit anderen Kindern aus ihrer Kirchengemeinde teilnehmen. Und so kam ich eines Tages nach Joshua Tree und habe mich sofort verliebt! Joshua Tree hat mich sofort an meinen geliebten Red Rock Canyon erinnert, den ich als Kind mit meinen gehörlosen Freunden erkundet hatte. Das Heimweh ließ nach und in der Natur zu sein half mir dabei, die Veränderungen in meinem Leben zu bewältigen. Hier konnte ich meine Balance, Ruhe, Weisheit und Stärke wiederfinden, einfach ich sein und eine gute Zeit haben. Joshua Tree hat eine unvergleichliche Magie.

Wie hast du dir deine gehörlose Klettercommunity aufgebaut?

Die Outdoorwelt (auf persönlicher Ebene oder über das Internet) war für gehörlose und taubblinde Outdoorfans weder zugänglich noch inklusiv. Deshalb habe ich 2012 die Facebookgruppe ASL Climbing Network gegründet und mit Freunden regelmäßig Klettertage für Gehörlose in der lokalen Kletterhalle veranstaltet. Dann habe ich vom Red Rock Rendezvous erfahren, einem Outdoor Festival, das von Mountain Gear veranstaltet wurde. Ich war vorher noch nie auf so einem Festival gewesen, aber ich war neugierig. Gemeinsam mit den Veranstaltern habe ich Wege gesucht, um das Event so zugänglich und inklusiv wie möglich für mich zu machen. Später kamen noch mehr gehörlose Freunde dazu. Wir rekrutierten ganz wunderbare ASL-Dolmetscher (ASL = American Sign Language, dt. amerikanische Gebärdensprache). Die Gruppe wurde jedes Jahr größer. Auf einmal waren wir eine richtige gehörlose Outdoor-Community geworden! Als das Red Rock Rendezvous nicht mehr stattfand, sind wir nach Joshua Tree umgezogen. Einmal im Jahr veranstalten wir dort nun mit der Southern California Mountaineers Association das ASL Camp und Kletterwochenende. In diesem November jetzt schon zum vierten Mal.

Spruce Tone Films ©

Wie fühlt es sich an, wenn du kletterst?

Draußen in der Natur zu sein und in meiner Freizeit Sport zu treiben, erlauben es mir, mich frei zu fühlen und zu feiern, wer ich bin. Die Leidenschaft für das Abenteuer habe ich schon mein ganzes Leben lang. Klettern macht einfach superviel Spaß! Man lernt dadurch viel über seine eigenen Fähigkeiten. Ich empfinde es als einen Segen und bin sehr dankbar für mein reiches Leben, und dass ich es mit anderen teilen kann. Die Menschen, die an mich glauben, der Glaube an mich selbst und Mutter Natur, die uns alles, was ist geschenkt hat, sind das, was mich stützt und aufbaut. Meine Geschichte ist nur eine von vielen. Wenn es mehr Zugang und Inklusion gäbe, würden die Leute hoffentlich verstehen, wie großartig gehörlose Menschen sind. Das wünsche ich mir.

Warum ist Klettern so beliebt?

American Sign Language translator: Meaghan Vehlies

Kannst du dich an deinen ersten Berg erinnern?

Als ich auf dem College war, habe ich mit Freunden den Mount Baldy und den Mount Whitney in Kalifornien bestiegen. Das hat mein Leben verändert. Meine Welt wurde mit einem Mal soviel größer. Von da gab es kein Zurück mehr. Ich war seither noch oft auf diesen beiden Bergen. Sie sind meine Trainingsberge zu verschiedenen Jahreszeiten und erinnerten mich an meine Kindheit und meine damaligen gehörlosen Freunde, mit denen ich mich am sichersten gefühlt habe, und am meisten ich selbst war. Wir haben oft die Schule geschwänzt, um die Wüste rund um Las Vegas zu erkunden und sind dabei auf allem herumgeklettert, was wir am Lake Mead und in der Red Rock Canyon National Conservation Area finden konnten. Diese Freunde waren meine Familie. Und die Zeit in der Natur war wie eine Flucht von meinem Zuhause und der Schule, wo ich es schwer hatte. Ich hasste es, drinnen zu sein, also bin ich auf Dächer und Bäume usw. geklettert. Diese Leidenschaft für die Natur und die Berge habe ich also schon in sehr jungen Jahren entwickelt. Damals konnte ich noch nicht einmal Englisch lesen, wusste also auch nicht, wie die Berge und Felsen rund um uns herum hießen - Spaß hatten wir damit trotzdem!

Wann hat deine Familie gemerkt, dass du gehörlos bist?

Meine Großmutter hat mir gesagt, dass sie das sehr schnell gemerkt hat, schon kurz nachdem ich aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen bin. Ich habe sie immer ignoriert, wenn sie meinen Namen gerufen hat, aber sehr wohl auf die Bewegungen ihres Schaukelstuhls reagiert. Meine Mutter dagegen hat meine Gehörlosigkeit über Jahre hinweg nicht wahrhaben wollen. Als ich fünf Jahre alt war, haben sie mich getestet, indem sie auf Töpfe und Pfannen herumgetrommelt haben. Und ab da war klar, dass ich absolut nichts hören konnte. Meine Oma hatte es aber schon lange vorher gewusst. Sie hat über Zeichen mit mir kommuniziert, wir haben quasi unsere eigene Sprache entwickelt. Mit fünf oder sechs Jahren kam ich in ein Gehörlosenprogramm. Ich hatte 12 gehörlose Freunde. Im Laufe der Jahre wurden sie zu meiner Familie. Wir haben Zeichen, Geschichte und Outdoor-Abenteuer geteilt. Wir waren eine Familie.

Nicht mittels gesprochener Sprache kommunizieren zu können, ist für vielen Hörende nur schwer vorstellbar. Wie kommunizierst du, und was waren deine größten Schwierigkeiten?

Solange ich denken kann, habe ich mich der Welt visuell und haptisch angenähert. Ich habe über den Gesichtsausdruck, Körpersprache, Kunst – Ich liebe Malen! – und verschiedenste Gebärden kommuniziert. Zuhause und in der Schule war Sprache für mich nicht zugänglich. Darunter habe ich sehr gelitten. Meine Mutter hat nie die Gebärdensprache gelernt. Das ist traurig, weil sie ihre Tochter nie wirklich kennenlernen und eine Beziehung aufbauen konnte. Sie hat nicht verstanden, dass es ein Geschenk war, mich zu bekommen und dass ich so wie ich bin, schon vollkommen perfekt bin. Meine Verwandten haben sich sehr bemüht, dass ich meine Defizite aufholen konnte. Denn meine Schule in Nevada war ganz schrecklich gewesen. Aber auch sie hatten ihre Schwierigkeiten, meine Gehörlosigkeit als etwas Normales anzusehen und zu akzeptieren, dass ich nur in dem visuellen Umfeld der Gehörlosencommunity wirklich aufblühen konnte. Sprache und Kommunikation sind viel mehr als das, was man hören oder mit der Stimme zum Ausdruck bringen kann. Es gibt viel mehr Ebenen, über die Kommunikation funktioniert.

Wie kommunizieren gehörlose Kletterer?

American Sign Language translator: Meaghan Vehlies

Was sollten Hörende über Gehörlosigkeit wissen? Was würdest du ihnen mitteilen wollen?

Gehörlos zu sein ist nichts Besonderes. Im Grunde genommen ist es sogar ein Geschenk, das mein Leben und die Art, wie ich die Natur erlebe, aufwertet. Wenn ich die Herausforderungen, die ich hatte und habe, nicht gehabt hätte, wüsste ich gar nicht, was wir eigentlich brauchen und was wir verbessern sollten. Jeder von uns hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen, aber das Schöne an der Natur ist, dass sie uns dabei hilft, wieder einen Zugang zu uns selbst zu finden. Wir leben, wozu wir fähig sind, und sie spornt uns an, über uns hinauszuwachsen, wenn wir es brauchen. So viele Leute glauben, dass Gehörlosigkeit eine Behinderung oder ein Problem ist – aber so ist es nicht! Dieses Missverständnis ist unsere eigentliche Herausforderung. Ihr könnt mit mir zusammenarbeiten, wenn euch eine Welt mit mehr Inklusion und Zugang am Herzen liegt. Aber wenn ihr das nicht wollt, dann eben nicht.

©Spruce Tone Films
©Spruce Tone Films

Du hast mit deinen gehörlosen Klettercamps schon so viel erreicht. Gab es einen bestimmten Moment, wo du wusstest, dass eure Community so etwas gebraucht hat?

Das könnte der Moment gewesen sein, als ich bei einem Outdoor-Reiseanbieter gerne das „Seven-Summits-Package“ gebucht hätte, es aber nicht buchen konnte, weil ich gehörlos bin. Oder aber als ich von meiner Gruppe zurückgelassen wurde, während alle anderen mit unserem Guide zum Gipfel gingen. Oder als meine Bitte, ein Outdoorvideo zu untertiteln, ignoriert wurde. Oder generell immer, wenn etwas ohne mich entschieden wurde. Ich habe es selbst erlebt, und wusste, dass der Bedarf besteht, diese Themen anzusprechen. Ich musste etwas unternehmen. Die Outdoorindustrie besser zu machen, ist ein fortlaufender Prozess.

Mir wurden so viele Barrieren in den Weg gestellt, ich habe so oft Unterdrückung, Diskriminierung und Audismus erlebt. Es war hart, aber ich war härter. Es ist wichtig, dass diese Probleme im allgemeinen Bewusstsein ankommen und dass beide Seiten, die Hörenden und die Gehörlosen, gestärkt werden. Ich will mehr für die nächste Generation von gehörlosen Abenteurern in der Welt des Outdoorsports. Viele Firmen und Events behaupten, dass sie inklusiv, gleichberechtigt und divers sind. Doch ich sehe da einen qualitativen Unterschied in Bezug auf den Zugang, sowohl auf persönlicher Ebene, aber auch online. Ich empfinde es so, dass die gehörlose und taubblinde Community kaum integriert wird. Die gehörlose Outdoor-Community wächst immer schneller. Es wird Zeit, dass die Outdoorindustrie das wahrnimmt. Es muss noch soviel getan werden.

Klettern und dein Engagement als Inklusionsaktivistin sind nur ein Teil deines Lebens. Du bist auch Lehrerin. Warum hast du diesen Weg gewählt?

In der Schule und im College hatte ich nie sehr viel Freude am Lernen. Dabei lerne ich sehr gerne. Aber Lernen war für mich meistens eher ein Kampf. Ich hatte den Eindruck, dass Bildung ein Privileg der Hörenden ist und dass ich nicht den gleichen Zugang dazu hatte. Damals habe ich mir gewünscht, dass ich eine Schule für Gehörlose hätte besuchen können. Heute bin ich Lehrerin für hörende und gehörlose Schüler:innen. Ich bin die Lehrerin geworden, die ich selbst nie hatte, mir aber immer gewünscht habe. Es ist so wichtig für gehörlose Kinder, dass sie gehörlose Vorbilder haben. Andere Menschen, mit denen sie in Gebärdensprache kommunizieren können. Das hat mir als Kind gefehlt - und ich hätte es so nötig gehabt. Es hätte meine Welt verbessert und es mir einfacher gemacht, meinen Weg zu gehen. Gehörlose Vorbilder für gehörlose Kinder sind etwas geradezu Magisches. Sie können ein ganzes Leben verändern.

Was ist deine Schlüsselbotschaft?

American Sign Language translator: Meaghan Vehlies

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